Die drei Hamburger Jungs Floyd, Ricco und Walter sind dicke Freunde. Walter ist Lackierer in einer abenteuerlichen Hinterhofwerkstatt, Ricco hält sich für einen großen Rapper und jobbt in einem Schnellimbiss. Für Floyd beginnt ein neuer Lebensabschnitt: nachdem er eine Bewährungsstrafe abgebüßt hat, kann er auf einem Containerschiff anheuern. Wahrscheinlich aus Angst vor der Reaktion seiner Freunde teilt er diesen seine Entscheidung erst einen Tag vorher mit. Nach anfänglicher Niedergeschlagenheit genießen die drei noch einmal richtig ihren letzten Abend in der Hafenstadt Hamburg. Dabei erleben sie sowohl lustige als auch traurige und dramatische Geschichten, die die Freundschaft der drei und die Melancholie des Abschieds einfangen.
Anno 1999 veröffentlichte Sebastian Schipper dieses wunderbare Kleinod der deutschen Filmkunst. Im Folgenden möchte ich Dir, geneigtem Leser, „Absolute Giganten“ nahelegen. Denn der Text hier ist weniger eine differenzierte Review als ein offener Liebesbrief an eine unvergessliche Nacht, gebannt auf Zelluloid. Hamburg, irgendwann in den späten 90ern. Floyd, Rico und Walther sind beste Kumpel und
warten. Auf was, das wissen sie selbst nicht so genau. Auf etwas Besseres, so viel ist klar. Rico rackert im McDonalds, Walther schraubt in einer zwielichtigen Hinterhofwerkstatt an Cabrios herum, Floyd arbeitet Sozialstunden im Krankenhaus ab. Zwischen dieser Tristesse vergnügen die drei sich mit Fußball spielen, Mädels hinterherschauen und Astra trinken. Alles geht seinen gewohnten Gang, bis Floyd eines Tages die Bombe platzen lässt: Er hat seine Bewährungsauflage abgearbeitet, er ist jetzt ein freier Mann. Nie wieder Krankenhaus, nie wieder sich von seinem hochnäsigen Bewährungshelfer unterbuttern lassen. „Jetzt ist endlich der Tag gekommen, an dem ich machen kann, was ich will. An dem ich machen muss, was ich will.“ Und was will Floyd? Raus, raus aus Hamburg, raus aus Deutschland, raus aus Europa. Er heuert auf einem Containerschiff nach Singapur an, heute wird sein letzter Abend mit seinen besten Freunden sein. „Morgen um 10 bin ich für immer weg“, eröffnet er ihnen beim Feierabend Bier auf dem Balkon. Und so beginnt eine letzte gemeinsame Nacht, in der dann doch alles anders läuft, als unsere drei Helden sich das vorgestellt hatten.
So oder so ähnlich könnte ja auch jede x-beliebige US-Komödie beginnen, Stichwort „Hangover“, doch „Absolute Giganten“ ist so unendlich viel mehr als eine reine Komödie. Über dem gesamten
Film schwebt eine unglaubliche Melancholie, etwa durch die geradezu magisch-realistischen Bilder eines Hamburgs der Vergangenheit, den Score von der Band Sophia, der über die Szenen wabert
oder einfach die langen, sehnsüchtigen Blicke, die Frank Giehring als Floyd in die Kamera wirft. Das Wissen, das Giehring etwa 10 Jahre später Selbstmord begehen wird fügt seiner Darstellung
von Trauer und Aufbrauchsschmerz etwas unheimlich „echtes“ hinzu. Und so touren unsere Protagonisten in Walthers Ford Granada (der Wagen hat ein Vinyldach) über die (erstaunlich) leeren Straßen Hamburgs, legen sich mit einer Crew von albanischen(!) Elvis Fans an, durchstreifen die Clubs der Hansestadt, essen Pommes und philosophieren über das
Leben, bemüht eine Normalität vorzuspielen, die ihnen keiner so wirklich abnimmt. „Was ist heute eigentlich los mit euch“ fragt ihre Mitstreiterin Telsa irgendwann. „Nichts, was soll los sein, ist doch
alles wie immer“, erwidert Rico daraufhin. Die darauf folgende Stille,die ausgetauschten Blicke, das ist ganz große Schauspielkunst. Und je länger der Abend geht, desto mehr versuchen unsere
„Giganten“ sich an jedem Augenblick festzuhalten. Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, ein Film möge NICHT zu Ende gehen, wie eben in „Absolute Giganten“. Man gönnt diesen Jungs
einfach jeden Moment miteinander, man möchte nicht, das dieses Kollektiv durch das Morgengrauen auseinander gerissen wird.
Doch der Morgen kommt und dem fahren Rico, Floyd und Walther stilecht auf der KöhlbrandBrücke entgegen, der Sonnenaufgang wird mit Blick auf die Landungsbrücken genossen. (Heute
steht dort das „König der Löwen“ Gebäude). Und dann greift Floyd seinen Seesack, die Kamera fährt in den Himmel, der Abspann setzt ein. Diese letzten zehn Minuten sind vielleicht das
intensivste, was das deutsche Kino jemals hervorgebracht hat (andere Vorschläge sind jederzeit willkommen), sowie „Absolute Giganten“ an sich einer der besten Deutschen Filme aller Zeiten ist.
Obwohl Schipper hier sein Spielfilmdebüt ablieferte beweist er ein ungeheures dramaturgisches Geschick. Jede kleinste Nebenfigur ist genauestens ausgearbeitet und ist einfach „echt“. Typen
wie die drei Tresenhänger in der Kneipe, die die Drei am Anfang des Filmes besuchen, kennt man selbst zu gut von eigenen nächtlichen Erfahrungen. Genauso wie die zwielichtigen Gestalten, die
einem auf der Club-Toilette „Erotik- und Geschichtsvideos“ andrehen wollen. Der aller-stärkste Aspekt von den „Giganten“ ist aber die Stille: Schipper setzt sie geradezu meisterhaft ein. „Absolute Giganten“ ist so unerträglich leise, das er irgendwann dröhnt, wie nur die Stille dröhnen kann.
Sollte jemand dieses Deutsche Kunstwerk noch nicht kennen, tut euch selbst einen Gefallen: Der Film ist (aktuell noch) bei YouTube abrufbar, er ist mit 80 Minuten vergleichsweise kurz, lustig,
traurig, eigentlich alles; opfert also einen Abend und lasst euch verzaubern. 2015 lief „Absolute Giganten“ in einer Retrospektive an einem Tag in jedem Programmkino Hamburgs. In einem Kinosaal voller Fans, in Anwesenheit von Cast und Regisseur selbigen erleben zu dürfen, das war wirklich etwas ganz besonderes, etwas absolut gigantisches. Und zum Abschluss das unausweichliche Zitat an das wohl jeder bereits gedacht hat: „Es müsste immer Musik da sein, bei allem Du machst. Und wenn es so richtig scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da. Und an der Stelle, wo es am aller schönsten ist, da müsste die Platte springen und Du hörst nur diesen einen Moment“. Mein Lieblingssatz aus dem Film, und damit möchte ich euch auch aus diesem Post verabschieden, lautet:
„Ja, ja, da geht einiges!“
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